Die Europäische Union, auf das Ziel einer „ever closer union“ ausgerichtet, sieht sich mit einem Beharren auf Nationalstaatlichkeit und nationaler Souveränität konfrontiert. Diese Orientierung geht – auf beiden Seiten des Mittelmeeres – vielfach einher mit identitären Verkrampfungen der Gesellschaft und mit der Restauration nationaler Großerzählungen im Prozess gesellschaftlicher Selbstverständigung.
Differenzen und Anerkennung
In diesem sind identitäre Obsessionen nicht nur auf Seiten derer zu beobachten, die Sicherheit im scheinbar Vertrauten suchen und auf die Abwehr sozialer und gesellschaftlicher Transformationen ebenso setzen wie auf die Ausschließung von Menschen, die mit diesen verbunden sind. Auch auf Seiten derer, die Teilhabe und Anerkennung einfordern oder die Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse und historischen Verdrängungen – etwa des europäischen Kolonialismus – formulieren, ist Identitätspolitik vielfach an die Stelle eines Denkens der Differenz getreten.
Dies ist nicht nur in den Kämpfen um die kulturelle Hegemonie auf der Ebene vermeintlicher Nationalkulturen zu beobachten, sondern z. B. auch mit Blick auf die Bestimmung des Europäischen und der Europäischen Union als einer Werte- und Rechtsgemeinschaft. Doch ist nicht im Gegenteil eine Differenzpolitik die Voraussetzung dafür, gesellschaftliche Stabilität und Zusammenhalt in einer – im doppelten Wortsinn – geteilten Welt zu organisieren?